Manche Blog-Posts bereitet man tage- und stundenlang vor, man recherchiert, fragt um Fotos an, ist vor Ort, führt Interviews… Und manche Blog-Posts entstehen von einer Sekunde auf die andere, nehmen im Kopf Form an und müssen dann einfach niedergeschrieben werden. Das kann beim Duschen passieren (besonders blöd, wenn du dann klatschnass und mit Shampoo im Auge vor dem Laptop sitzt), in der U-Bahn oder – wie dieser – während man singend durch die Küche tanzt und sich sicher ist, jeden Ton zu treffen und dabei auszusehen wie Irene Cara (What a feeling!).
Mein Ohrwurm und gleichzeitig „fight song“ ist derzeit „Shake away“ von Michael Patrick Kelly. Nun gehöre ich einer Generation an, der man nicht erklären muss, dass das der Paddy ist und wer wiederum dieser Paddy war, ich weiß allerdings, dass es auch nach mir Generationen gibt, die mit ihm nichts anfangen können. Also hier die Kurzversion. Michael Patrick Kelly, genannt „Paddy“ war das drittjüngste Kind einer irisch-amerikanischen Großfamilie, die in den 1990ern riesige, gigantische Erfolge mit der „Kelly Family“ feierte. Der 1977 geborene Sänger stand – wie seine Geschwister – seit seiner frühesten Kindheit auf der Bühne. Die Familie schaffte es mit unzähligen Hits zu Weltruhm, füllte Stadien und lebte letztlich sogar in einem Schloss. Immer von Fans umzingelt, wohlgemerkt. Und wie Joey, einer seiner älteren Brüder, einst in einem Interview sagte: „Eigentlich ist es ein Wunder, dass wir diesen Wahnsinn alle überlebt haben…“

Damals gab es zwei Lager. Entweder man war ein Fan der Kellys oder man hasste die „singende Altkleidersammlung“, zu deren Markenzeichen lange Haare (auch bei den Jungs) und Kostüme vom Flohmarkt zählten. Die Lieder konnte aber jeder mitsingen. Ich war damals in einem Alter, in dem man noch etwas – sagen wir – meinungsflexibel ist. Zwar war mein Kinderzimmer mit Kelly-Postern vollgepflastert, ich hatte alle CDs und Videokassetten, war auf Konzerten und sammelte Zeitungsausschnitte über die Truppe. Doch die Eier, mich auch in der Öffentlichkeit zu meinem Fandom zu bekennen, hatte ich damals nicht, denn in meiner Klasse war es halt gerade ziemlich modern, die Backstreet Boys oder die Spice Girls zu hören.

Irgendwann wurde es ruhig um die Kelly Family. Sie hatten sich zwar nicht so wirklich aufgelöst (geht als Familie auch schwer, wenn man nicht gerade Lepra hat), aber auch die jüngsten Mitglieder waren in der Zwischenzeit erwachsen geworden und sehnten sich vermutlich auch mal nach einer Art eigenes Leben. Soloprojekte wurden verfolgt, Sportlerkarrieren (Joey!) gestartet und Paddy – ja, der ging ins Kloster. Das bekam ich damals aber auch nur mehr so am Rande mit, denn auch Paddy und ich hatten uns ein wenig auseinander gelebt; nein, wir hatten uns völlig aus den Augen verloren. Gut, wenn es irgendwie hart im Leben wurde (Diplomarbeit schreiben) oder ich mich nach Familie, Melancholie und der guten alten Zeit sehnte, dann hab ich vielleicht hin und wieder eventuell ein paar (Stunden) Kelly-Konzerte auf youtube geschaut. Ab meinen Zwanzigern (ungefähr) war es dann eher das Hartmetall, das mich musikalisch anzog. Das ist es im Prinzip noch heute. Five Finger Death Punch steht dabei ganz oben auf der Liste.

Dass ein Teil wieder gemeinsam auf Tournee geht und ein anderer Teil in Sachen Solo nicht ganz unerfolgreich ist, habe ich zwar gehört, doch im Endeffekt war es eine News-Meldung, über die ich stolperte und die schließlich meinen aktuellen Ohrwurm verursachte: „Michael Patrick Kelly rührt sie alle!“ Wie das halt so ist, habe ich den Artikel gelesen, bin darüber auf „Sing meinen Song“ gestoßen und hab mir ein paar Clips daraus angesehen. Abgesehen davon, dass ich mich (auch heute wieder) frage, wie diese Lena jemals irgendjemand zur Sängerin machen konnte, genügten schon die ersten Takte von „Shake away“ von Paddy (der übrigens in einem Dilemma steckt: Einerseits möchte er sich ja von der Familie und den Langhaar-Zeiten emanzipieren, andererseits schleppt der junge Mann aber halt auch eine so lange und bewegte Geschichte mit sich herum, dass es schade wäre, diese nicht zumindest zu erwähnen), um mich tanzen zu lassen.
„Shake away“, das von einem Vagabunden erzählt, der sich alleine aufmacht, sein altes Leben hinter sich lässt und einem neuen Weg folgt, reiht sich jetzt auf meiner Playlist zwischen „God is Dead“ und „Battle born“. Wie ein bescheidenes Gänseblümchen zwischen Disteln behauptet es sich da und ist mein Immer-wieder-go-to-Song geworden. Die Melodie ist einfach, eingängig und harmonisch, der Text positiv und hoffnungsvoll. Ich sage nicht, dass das nicht auch auf andere Songs in meiner Playlist zutrifft, aber eines ist doch anders: Es ist kein perfekter Song. Keine perfekte Stimme. Kein (technisch unheimlich schwieriges) screaming. Kein Finetuning bis zu teflonähnlicher Glätte. Es ist hausgemachte, ehrliche Musik, wahrscheinlich sogar handgeschrieben und auf Tonbandkassetten eingesungen. Etwas Menschlichkeit in einer gephotoshoppten und instagramgefilterten Welt. Da ist es nur passend, dass MP Kellys neues Album den Titel „Human“ trägt.
Da mir in der Zwischenzeit glücklicherweise Eier gewachsen sind, traue ich es mich jetzt zugeben: Ich mag die Kelly Family, habe sie immer schon gemocht und bin aktuell ein Dauerschleifen-Hörer von „Shake away“. Damals als Kind war ich Fan der Kellys, weil sie in meinen Augen perfekt waren. Diese Großfamilie, die sich liebte, gemeinsam Spaß hatte, berühmt war und Musik machen konnte, die interessant war und in der es dank der vielen Mitglieder (damals 9) immer jemanden gab, den man anhimmeln konnte. Und heute liebe ich die Kellys, weil sie in meinen Ohren unperfekt sind. Und jetzt, nach vielen Jahren rückblickend und sehr reflektiert (humorige) Einblicke in ihr früheres Leben geben, das auch damals nicht nur rosig war. Das Paddy-Poster überm Bett brauche ich heute zwar nicht mehr, aber dass er damals nicht gesprungen ist, dafür bin ich schon auch dankbar.
Shake away, shake away the old chains in my life
Got a new, got a new love and open eyes
Break away, break away the old ways and live high
Got a new course for the light
Human by Michael Patrick Kelly könnt ihr z.B. auf Amazon kaufen, das Album gibt’s um 21,90 Euro, mehr Infos zum Künstler auf www.michael-patrick-kelly.com.
Aktuelle Fotos (c) Andreas H. Bitesnich
Featured Image (c) Andreas Nowak
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