Sherlock: Das finale Grundproblem

Holmes und die Sucht

Es scheint, als habe die Popularität des legendären Detektivs Sherlock Holmes und seines Sidekicks Dr. John Watson seit dem ersten Auftauchen des Duos nie abgenommen; ein neues High – und man verzeihe mir das Wortspiel – hat der Hype jedoch durch die kürzlich veröffentlichte (letzte?) Folge der BBC-Serie mit Benedict Cumberbatch in der Hauptrolle erlebt. High… womit wir beim Thema wären.

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Sir Arthur Conan Doyle

Sir Arthur Conan Doyle, der Erfinder des Detektivs (oder Weiterentwickler Poes C. Auguste Dupins), hat diesen 1887 auf der Bühne der Weltliteratur eingeführt. Doyle stattete seine Hauptfigur nicht nur mit distinktivem Auftreten und Agieren sowie scharfer Beobachtungs- und Deduktionsgabe aus, sondern auch mit einigen durchaus menschlicheren Zügen, darunter seinem ständigen Verlangen nach Selbstbestätigung und – in gewisser Weise – Genusssucht. Bei Doyle äußert sich das durch Morphium- und Kokainkonsum seitens des Detektivs. Ein Umstand, der in keiner der Geschichten eine tragende Rolle spielt, sondern eher der Zeit geschuldet ist. Während der Entstehungszeit der ursprünglichen Geschichten war Morphium in Apotheken frei erhältlich und Kokain nicht als Droge verboten.

Damals trafen sich die Damen besserer Gesellschaftsschichten zu „Injektionskränzchen“, sowohl Kokain als auch Morphium erfreuten sich aufgrund ihrer betäubenden Wirkung unter anderem bei den vielen Verwundeten aus diversen Kriegen großer Beliebtheit und wurden praktisch jedem zur Selbstinjektion überlassen. Künstler erhofften sich Kreativitätssteigerung, ein bekannter Zeitgenosse und Anwender war beispielsweise Thomas Edison. In Wien war Sigmund Freud bekanntester Anhänger dieser Mode (siehe dazu auch sein 1884 veröffentlichter Artikel „Über Kokain“; nach Freuds Ansicht ein „magisches“ Mittel gegen allerlei Befindlichkeitsstörungen).

Holmes gab sich eines Genusses hin, dessen weitreichende Folgen nicht bekannt waren. sherlock-holmesZwar äußert sich Watson hin und wieder besorgt um den Gesundheitszustandes seines Freundes, am okkassionellen Konsum ändert das aber wenig. Er wird nicht weiter thematisiert; ist Holmes gelangweilt, greift er zur Pfeife, Zigarre oder eben dem, was heute als Drogen klassifiziert ist. Er greift zu den Drogen „to escape the dull routine of existence“, wie er Watson gesteht. Damals, im viktorianischen England, durchaus eine gängige Praxis. Kurz: Man wusste es nicht besser, auch wenn Doyle Watson seine Bedenken äußern lässt.

Im Verlaufe der Zeit, als die negativen Folgen von Morphium- und Kokainkonsum belegt und bekannter waren, arbeitete Doyle dies in die Geschichten ein. Zur zeitlichen Einordnung: Erst 1903 wurde die Coca-Cola Company gezwungen, Kokain aus der Rezeptur des Softdrinks zu verbannen. Im 1904 veröffentlichten „The Missing of the Three-Quarter“ schließlich ist  Holmes von den Drogen weg:

„For years I had gradually weaned him from that drug mania which had threatened once to check his remarkable career. Now I knew that under ordinary conditions he no longer craved for this artificial stimulus, but I was well aware that the fiend was not dead, but sleeping.“ [The Complete Sherlock Holmes, vol. II, 174] schreibt Watson/Doyle.

Ah ja, also doch ein Problem, dieses Kokain und Morphium. (Kleine sidenote: 1896 kam ein Mittel auf den Markt, das bei Atemwegsproblemen und Husten half und die Morphium-Sucht bekämpfen sollte. Sein Name: Heroin…) Zusammengefasst: Holmes‘ Drogenkonsum bleibt für die ursprünglichen Geschichten mehr oder weniger irrelevant und ist eine Modeerscheinung, die – wie die gängige Praxis – aus dem öffentlichen Raum/den Geschichten verschwindet. Die Downs eines Entzugs und tiefere Psychologie des Konsums werden nicht thematisiert (behaupte ich hier aus der Erinnerung; ich werde tunlichst die gesammelten Werke nochmal lesen).

Gut, nun gibt es unzählige Verfilmungen und Weiterentwicklungen/Adaptionen des Doyle-(Anti?)Helden, ich wage sogar zu behaupten – beziehungsweise finde ich es recht offensichtlich – dass auch die Serie „Dr. House“ mit dem schmerzmittelabhängigen Superarzt darauf aufbaut, aber ich möchte mich hier auf zwei besondere Serien konzentrieren. Einerseits die amerikanische Variante „Elementary“ mit Johnny Lee Miller (Holmes) und Lucy Liu (Watson) und andererseits die britische Serie „Sherlock“ mit Benedict Cumberbatch (Holmes) und Martin Freeman (Watson) in den Hauptrollen. Diese Auswahl mag anfangs willkürlich erscheinen, dennoch erfolgt sie nach zwei Gesichtspunkten. Einerseits sind beide Serien die aktuellsten, andererseits handelt es sich eben um Serien. Ebenso wie die Originalwerke Doyles, die als Einzelgeschichten angelegt waren und hin und wieder die Ausmaße eines Romans annahmen, aber als Serie in diversen Magazinen, am erfolgreichsten im „The Strand“ (ab 1891), veröffentlicht wurden. Ein interessanter Aspekt ergibt sich außerdem aus der Tatsache, dass beide Varianten in unterschiedlichen Kulturräumen (eben New York im Fall von „Elementary“ und London in „Sherlock“) angesiedelt sind.

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Johnny Lee Miller & Lucy Liu in „Elementary“, (c) CBS

In beiden Serien ist Sherlock ein Süchtiger. In beiden Serien wird die Sucht in (fast) jeder Folge thematisiert. Im Falle von „Elementary“ (Erstausstrahlung 2012) ist Holmes jedoch ein Ex-Junkie, der kontinuierlich daran arbeitet, clean zu bleiben. Einer, der mit Dr. Joan Watson zusammenlebt, einer Suchtberaterin. Einer, der – ganz amerikanisch – wie Phönix aus der Asche auferstanden ist. Einer, der nach traumatischen Erlebnissen in London nach New York ging, um dort ein neues Leben (neue Welt, neues Leben!) anzufangen, selbstverständlich nach einem erfolgreichen Entzug in einer Suchtklinik. Anders als bei Doyle oder der BBC-Serie ist hier jemand, der Holmes ständig beobachtet und ihm (und dem Zuschauer) vor Augen führt, wo die Wurzeln seiner Sucht liegen. In diesem Fall handelt es sich nicht um dem Folgen einer Mode oder den Wunsch, sich zu beschäftigen – oder gar, so wie die BBC-Inszenierung das glauben macht – der absichtlichen, kontrollierten Steigerung der geistigen Fähigkeiten. Holmes, der hier seiner Heroin-Sucht entflohen ist, nutzte die Droge, um sein hypersensibles Ich zu betäuben. Ein Ich, das verletzt wurde, vor allem durch den Tod seiner geliebten Irene Adler (The Woman) und oft viel mehr sieht, als eigentlich gut für ihn ist. Viel mehr wahrnimmt, als gut für ihn ist. Bei „Elementary“ wird über alle Staffeln hinweg die schlüssige Entwicklung der Figur vom abgestürzten Junkie zum Superdetektiv dargelegt. Ein Junkie, der sich nicht einmal mehr daran erinnern kann, ob er an seinem Tiefpunkt eine Frau (Staffel 3, Episode 16: „For all you know“) ermordet hat – oder eben nicht. Watson führt ihm immer wieder vor Augen, mit welchen Verlusten seine Sucht einher geht, wie sie sich auf seine Fähigkeiten und seinen Körper auswirkt und dass Sucht etwas ist, das bekämpft gehört; weil ungesund. Potentiell tödlich.

Natürlich, „Elementary“ wirkt – so nüchtern (ein weiterer Schenkelklopfer) betrachtet – sehr erzieherisch, besserwisserisch und belehrend. Die Tatsache aber ist, dass zumindest ich als Zuseher das nicht als störend oder zu offensichtlich empfinde, sondern als notwendige Vertiefung des Charakters. Als logische Erklärung für Verhaltensweisen. Die Sucht ist hier ein Erzählstrang, auf dem viele der einzelnen Geschichten aufgehängt sind. Sie ist da, sie ist unübersehbar, sie wird bekämpft und alles ist gut. Entzug und der lebenslange Struggle mit dem ständigen Begleiter wird thematisiert. Für mich als Menschen, der mit Suchtkranken durchaus vertraut ist, eine ehrliche, umfassende Darstellung. Ein Punkt für die Amis.

Sherlock - Der leere Sarg
Benedict Cumberbatch, Martin Freeman. © ARD Degeto Film/BBC/Hartswood Films

Und jetzt zur BBC (Erstausstrahlung 2010). Zugegeben und vorweg: Cumberbatch und Freeman sind für mich das Holmes/Watson-Duo schlechthin. Die Machart ist nahezu perfekt, man merkt in jeder einzelnen Folge, dass die Serienschreiber Gatiss und Moffat Doyles ursprüngliche Geschichten verehren. Der Humor, die Geschwindigkeit, die Ästhetik der Folgen sind einzigartig. Und das sei ihnen auch alles unbenommen. Was mich persönlich jedoch sehr stört ist die Darstellung von Drogenkonsum. Hier wird sie lapalisiert, indem sie immer wieder vorkommt, aber nicht negativ thematisiert wird. Weder Watson, noch Mycroft oder sonst irgendjemand wagt es, Sherlock mehr als nur ein Augenrollen oder einen Taps auf die Finger zu geben. Wird die Sucht zum Thema, dann vor allem als Handlungsrahmen, als Hintergrund, vor dem Holmes seine meisterhaften Theorien entwickelt. Holmes, Superstar und sich selbst als überlegen betrachtend, scheint seine Sucht und sogar die Auswirkungen des Rausches kontrollieren zu können, sie bewusst zu nutzen, um sein Bewusstsein zu erweitern. Wie ein talentierter Reiter, der sich auf ein besonders schnelles Pferd setzt, um ans Ziel zu gallopieren. Einerseits interessant, dass er dann in Fällen auf Heroin setzt (das zu einer deutlichen Verlangsamung der Reaktions- udn Denkfähigkeit führt…), andererseits: So funktioniert Sucht nicht. Selbst ein Holmes kann exzessiven Konsum nicht einfach wegstecken oder benutzen wie ein Auto (oder eben Pferd). In Anlehnung an Doyles Geschichten verwendet unser BBC-Sherlock die Drogen dann auch, wenn ihm langweilig ist. So dass er in seinem Hirn selbst längst vergangene Fälle („The Abominable Bride“) löst. Ein Umstand, der meiner Meinung nach (und wahrscheinlich bin ich da auch besonders sensibilisiert dafür, aber dennoch…) Sucht/Drogen glorifiziert. Sherlock hat mit keiner wie auch immer gearteten Konsequenz zu rechnen. Er verliert sich nicht selbst im Drogenrausch, er versandelt nicht, er bleibt in Kontrolle. Ein Paradoxon. Wenn die Substanzen doch dazu gedacht sind, die Kontrolle absichtlich zu verlieren.

Um zu einem Abschluss von etwas, das vielleicht nicht mehr als ein rant ist, zu kommen: Während also Doyles Holmes offensichtlich ein Kind seiner Zeit ist (heutzutage würde Holmes vielleicht Gin saufen oder literweise Red Bull kippen), hatten „Elementary“ und „Sherlock“ den nötigen Wissensvorsprung, um mit diesem „einzigen Laster“, das der Detektiv hatte, angemessen umzugehen. Meiner Meinung nach schafft „Elementary“diesen Spagat, während die BBC in meinen Augen kläglich versagt, aka in eine völlig andere Richtung spaziert. Abgesehen von diesem Pluspunkt (und dem sexy Johnny Lee Miller…) hat jedoch „Elementary“ wenig wirklichen Suchtcharakter (Schenkelklopfer 3!) für den Zuseher, während ich mich – würde ich vor die Entscheidung zwischen Holmes und Holmes („The Final Problem“) gestellt, mich immer für Holmes (BBC) entscheiden…

3 Kommentare

  1. fiktionfetzt

    Toller Artikel – hab ihn gleich noch ein zweites Mal gelesen!

    Deine ‚Dr. House ist Sherlock Holmes‘ Annahme ist übrigens vollkommen richtig – seine Adresse in der Serie lautet sogar 221b Baker Street 🙂

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      1. fiktionfetzt

        Mir ist das in der Serie auch nicht aufgefallen – vor allem weil ich mit Sherlock Holmes damals noch nichts am Hut hatte. Bin nur neulich zufällig drauf gestoßen, als ich was über Holmes recherchiert hab.

        Gefällt 1 Person

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